Rechtsextreme Ausschreitungen in Chemnitz: Erst jetzt beginnt der Prozess

In Chemnitz toben sich 2018 nach dem gewaltsamen Tod von Daniel H. Neonazis aus ganz Deutschland aus – mehrere Menschen werden verletzt. Doch die Angreifer kommen erst jetzt vor Gericht. Wie kann das sein?

Die Männer, die am 1. September 2018 durch die Straßen von Chemnitz laufen, sind auf der Suche. Nach Menschen, die gerade noch auf einer Kundgebung „Herz statt Hetze“ gefordert haben, und nun auf dem Heimweg sind. Im Stadtzentrum kreisen die Männer eine Gruppe ein, reißen Transparente aus den Händen, schlagen mit den Fäusten in Gesichter. Polizei und Generalstaatsanwaltschaft können mehrere Angreifer ermitteln, darunter gewaltbereite Rechtsextreme aus ganz Deutschland.

Doch es dauert, bis den Ersten der Prozess gemacht wird: Wenn sich ab Montag sechs Angeklagte vor dem Landgericht Chemnitz wegen Landfriedensbruch und schwerer Körperverletzung verantworten müssen, sind mehr als fünf Jahre vergangen. Opferverbände und Anwälte üben deswegen Kritik. Denn keiner, der den Angriff erlebt hat, konnte mit dem abschließen, was an jenem Abend passiert ist.

Doch warum hat die Justiz so viel Zeit verstreichen lassen? Stimmt der Vorwurf von Kati Lang? Die Anwältin vertritt einen der Betroffenen als Nebenkläger und sagt: „Man hat die Dimension des Verfahrens nicht erkannt.“

Die Angreifer sind wie im Rausch

Wer zurückdenkt an jenen Spätsommer in Chemnitz 2018, erinnert sich an eine Stadt im Ausnahmezustand, an massive Ausschreitungen, die Ohnmacht der Sicherheitsbehörden. Auslöser ist der gewaltsame Tod von Daniel H. Nachdem ihn zwei Flüchtlinge am 26. August niederstechen, ziehen Hooligans randalierend durch die Straßen.

Bei einer Demonstration, angemeldet durch die rechtsextreme Gruppierung Pro Chemnitz, wird Pyrotechnik gezündet, Neonazis durchbrechen Polizeiketten. Anschließend bersten die Scheiben eines jüdischen Restaurants.

Es ist eine Zeit, in der sich eine neue terroristische Gruppierung bildet, die AfD den Schulterschluss sucht, mit Anhängern von Pegida und gewaltbereiten Neonazis: Bei einer als „Schweigemarsch“ angemeldeten Demonstration am 1. September 2018 marschieren alle gemeinsam.

Die Polizei zählt 4500 Teilnehmer. Es geht nur langsam voran. Nicht weit entfernt gibt es eine Gegenkundgebung unter dem Motto „Herz statt Hetze“, Teilnehmer blockieren immer wieder die Route, es kommt zur Auflösung und eben jenen Übergriffen, die nun vor Gericht verhandelt werden.

Die Generalstaatsanwaltschaft hat den Abend anhand der Zeugenaussagen ziemlich genau rekonstruiert: Anstatt nach Hause zu fahren, machen sich gegen 19.55 Uhr Teilnehmer des „Schweigemarsches“ auf den Weg in die Stadt. Es bildet sich eine Gruppe, die zwischenzeitlich auf 30 Menschen anwächst. Sie kommen aus Dresden, Chemnitz – aber auch Braunschweig, Goslar, Wolfsburg, Dortmund. Sie laufen, sie rennen wie im Rausch durch die Stadt, rufen „Adolf Hitler Hooligans“, verfolgen Gegendemonstranten, gehen auf sie los.

Darunter ist auch eine Gruppe aus SPD-Mitgliedern und Anhängern, die extra mit dem Reisebus aus Hessen angereist sind. Die Angreifer beschimpfen sie als „Scheiß Anti-Deutschen-Schweine“ und „linke Zecken“. Drei der nun Angeklagten sollen mehrere Personen mit Knüppeln und anderen Schlaggegenständen traktiert haben. Einen Zeugen verfolgen sie durch den „Park für die Opfer des Faschismus“. Den Angreifern sei es um Einschüchterung gegangen, heißt es in der Anklageschrift. Die Gegendemonstranten sollten sich künftig nicht mehr trauen, für die eigenen Überzeugungen einzustehen.

Chemnitz: Kulturhauptstadt und Rückzugsort für Rechtsextreme

Die Dimension des Ganzen, der Generalstaatsanwaltschaft scheint sie durchaus bewusst. Fragt man nach, warum zwischen Angriff und Prozess mehr als fünf Jahre liegen, verweist ein Sprecher auf die ziemlich umfangreichen Ermittlungen, die sich ursprünglich gegen insgesamt 122 Beschuldigte gerichtet haben sollen. Mit Anklageerhebung war ab September 2021 das Landgericht Chemnitz zuständig. Und dort ist von der Belastung der Justiz die Rede, von den Herausforderungen in der Corona-Pandemie.

Auch die Anwältin Kati Lang kennt die Argumente. Sie weiß auch, dass Verfahren, bei denen Angeklagte in Haft sitzen, Vorrang haben. „Trotzdem hätte ich mir mehr Engagement gewünscht“, sagt sie. Vor allem, weil etliche Angeklagte auch nach den Taten gewalttätig wurden oder untertauchten. Für den Prozess sind Termine bis in den Januar angesetzt. Zwei weitere Verfahren laufen noch.

Die Ausschreitungen von 2018 beschäftigen nicht nur die Justiz, sondern auch Chemnitz selbst. Die Ereignisse bedeuteten einen Aufbruch, in vielerlei Hinsicht. Es gab immer wieder Diskussionsrunden und Veranstaltungen, in denen die Ereignisse diskutiert, statt totgeschwiegen wurden. Als Kulturhauptstadt wird die Stadt 2025 viele internationale Gäste anziehen. Gleichzeitig gilt sie als Rückzugsort für Rechtsextreme. Der Anwalt Martin Kohlmann orchestriert von hier aus die Aktionen der „Freien Sachsen“, Unterstützung bekommt er von prominenten Dortmunder Neonazis. Und vor wenigen Tagen eröffnete die „Identitäre Bewegung“ ein Hausprojekt in der Stadt. Allerdings nicht ohne Gegenprotest.


MDR 11.12.2023

Fünf Jahre danachProzess zu Ausschreitungen in Chemnitz 2018 beginnt im Dezember

Ein tödlicher Messerangriff am Rande des Stadtfestes versetzte Chemnitz 2018 in Aufruhr. Ausländerfeindliche Proteste und Ausschreitungen waren die Folge. Jetzt beginnt am Landgericht ein Prozess wegen Landfriedensbruchs gegen sechs Teilnehmer einer rechten Demo.

  • Sechs Männer müssen sich vor dem Landgericht wegen Landfriedensbruchs verantworten. Drei der Angeklagten stammen aus Sachsen.
  • Ursprünglich richtete sich der Prozess gegen neun Angeklagte.
  • Vertreter von Opfern der Ereignisse von 2018 kritisieren die sächsische Justiz für den späten Prozessbeginn.

Mehr als fünf Jahre nach einem tödlichen Messerangriff beim Chemnitzer Stadtfest und anschließenden Ausschreitungen geht am Landgericht Chemnitz die juristische Aufarbeitung des Geschehens weiter. Wie das Gericht mitteilte, beginnt am Montag ein Prozess wegen Landfriedensbruchs gegen sechs Angeklagte.

Nur drei Angeklagte aus Sachsen

Den Männern im Alter von 26 bis 51 Jahren wird vorgeworfen, nach einem sogenannten Trauermarsch von AfD, Pegida und Pro Chemnitz am 1. September 2018 Teilnehmer einer Gegendemonstration angegriffen zu haben. Von den sechs Angeklagten kommen drei aus Sachsen, einer von ihnen aus Chemnitz. Die anderen wohnen laut Gericht in Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und im Saarland. Es sind elf Verhandlungstermine bis Ende Januar geplant.

Ursprünglich sollte gegen neun Angeklagte verhandelt werden, doch nach Angaben des Gerichts schieden zwei Männer aus dem Verfahren aus. Bei einem Bulgaren konnte laut Gericht die Ladung nicht zugestellt werden, so dass das Verfahren abgetrennt wurde. Bei einem anderen Mann wurde das Verfahren eingestellt, weil „die zu erwartende Strafe angesichts der in einem anderen Verfahren verhängten Strafe nicht beträchtlich ins Gewicht fiele“, so eine Gerichtssprecherin. Bei dem Prozess gibt es verschärfte Einlasskontrollen.

Langes Warten auf Prozess

Der Prozess ist der erste von insgesamt drei Verfahren zu den Krawallen am 1. September 2018. Es seien insgesamt 29 Beteiligte ermittelt worden, sagte die Sprecherin. Elf Menschen waren bei den Angriffen verletzt worden. Die Termine für die anderen beiden Prozesse stehen noch nicht fest. Wegen der Corona-Pandemie habe nicht eher begonnen werden können.

Bei den Angeklagten handle es sich in großen Teilen um organisierte Neonazis, erklärte André Löscher, der für den Verein RAA Sachsen seit vielen Jahren in Chemnitz Betroffene rechter Gewalt berät. Sie seien kampfsportgeschult, um politische Gegner einzuschüchtern, anzugreifen und zu verletzen.

Scharfe Kritik an juristischer Aufarbeitung

Opfervertreter haben die sächsische Justiz für den späten Prozessbeginn scharf kritisiert. Sie habe Betroffene rechter Gewalt wiederholt im Stich gelassen, erklärte die Nebenklagevertreterin Kati Lang. Sie räumte ein, dass es sich um ein sehr umfangreiches Verfahren handle. Aus ihrer Sicht hätte das Ganze aber auch mit Blick auf die bundesweite Tragweite engagierter vorangetrieben werden müssen. „Das Landgericht Chemnitz schreibt bisher kein Ruhmesblatt für die Aufklärung rechter Gewalttaten“, sagt sie. „Für die Betroffenen ist das extrem frustrierend.“

Der Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG) sprach von einer „katastrophalen juristischen Aufarbeitung“. Dies entmutige die Angegriffenen und stärke militante Neonazi-Netzwerke.

Das Landgericht Chemnitz schreibt bisher kein Ruhmesblatt für die Aufklärung rechter Gewalttaten. Für die Betroffenen ist das extrem frustrierend.

Kati Lang Nebenklagevertreterin
Rassistische Angriffe 2018

Am Rande des Chemnitzer Stadtfestes war am 26. August 2018 ein Deutscher im Streit mit Asylbewerbern erstochen worden. Ein Syrer wurde später wegen Totschlags verurteilt, ein weiterer Beteiligter ist auf der Flucht. Die Gewalttat führte in der Stadt zu massiven Protesten, bei denen Neonazis und Fußball-Hooligans Seite an Seite mit zuvor unauffälligen Bürgern demonstrierten. Es gab rassistische Angriffe und einen Anschlag auf ein jüdisches Restaurant; auch von Hetzjagden war die Rede. Außerdem gründete sich eine rechtsextreme Terrorgruppe.

Als Reaktion auf die Ereignisse haben auf dem Konzert „Wir sind mehr“ Die Toten Hosen, Kraftklub und andere Künstlerinnen und Künstler gegen Rassismus gespielt. 2019 legte Chemnitz dann erstmals das Kosmos-Festival auf, als Antwort auf die rechten Ausschreitungen ein Jahr zuvor und als Weiterführung von „Wir sind mehr“.

Ermittlungen und Prozesse nach den Ausschreitungen in Chemnitz 2018

Nach den Ausschreitungen in Chemnitz im Zusammenhang mit dem Tod von Daniel H. wurden mehr als 240 Ermittlungsverfahren eingeleitet und 235 Tatverdächtige ermittelt.

Die 142 Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Chemnitz in diesem Zusammenhang sind abgeschlossen. Davon wurden 97 eingestellt, weil keine Täter ermittelt oder die Tat nicht nachgewiesen werden konnte.

Von den rund 100 Verurteilungen konnten 51 eindeutig dem politisch rechten Spektrum zugeordnet werden. In den meisten Fällen wurden Geld- oder Bewährungsstrafen verhängt.

Es ging um Volksverhetzung, Beleidigung, Widerstand und Angriff auf Polizisten, Sachbeschädigung, Körperverletzung, Verstöße gegen das Versammlungsgesetz und das Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen.

Mehrere Gerichtsverfahren stehen noch aus.


11.12.2023 BILD

Nur vier von sechs Angeklagten da – Neonazi vor Randale-Prozess abgetaucht

Marcel W. (44, li) versteckt sich vor Gericht hinter einer Sonnenbrille und unter einer bunten Mütze. Neben ihm der Mitangeklagte Rico W.

Chemnitz (Sachsen) – Die Justiz brauchte mehr als fünf Jahre, um nach den schweren Neonazi-Ausschreitungen in Chemnitz im September 2018 die mutmaßlichen Schläger vor Gericht zu stellen. Als es am Montag endlich losging, fehlten zwei von sechs Angeklagten …

Einer liegt in der Psychiatrie, der andere ist auf der Flucht.

Die Generalstaatsanwaltschaft wirft Gärtner Marcel W. (44), Reinigungskraft Rico W. (34), Kaufmann Mark B. (26) und Meister Timo B. (30) Landfriedensbruch und gemeinschaftliche gefährliche Körperverletzung vor.

Womöglich erkältet? Mark B. kam mit Corona-Maske zum Prozess-Auftakt

Sie sollen laut Anklage am 1. September 2018 zunächst an einem sogenannten Trauermarsch von AfD, Pegida und Pro Chemnitz teilgenommen haben.

Gemeinsam mit Pierre Stefan B. (wurde vor dem Prozess in die Psychiatrie eingewiesen) und Steven B. (trat unlängst eine andere Haftstrafe nicht an und ist derzeit untergetaucht) sollen die Angeklagten anschließend an mehreren Angriffen auf Teilnehmer einer „Herz statt Hetze“-Demonstration beteiligt gewesen sein.

Laut Anklage zog eine Gruppe von bis zu 30 mutmaßlichen Neonazis gegen 20 Uhr zur Bahnhofstraße, schlug dort acht Menschen zusammen. Einer musste am Auge genäht werden. Der Mob habe dabei „Adolf Hitler, unser Führer“ gebrüllt.

Später soll die Horde an der Reitbahnstraße Gegendemonstranten überfallen haben, sei schließlich in den Park der Opfer des Faschismus gezogen. Dort, so die Generalstaatsanwaltschaft, wurden Demonstranten SPD-Fahnen entrissen und mit Knüppeln attackiert. Einem Gegendemonstranten sei demnach gedroht worden: „Den machen wir kalt.“

Nach Verlesung der Anklage setzte das Landgericht in Chemnitz Rechtsgespräche an. Am Nachmittag sollen erste Zeugen gehört werden. Für den Prozess hat das Landgericht Chemnitz erhöhte Sicherheitskontrollen angeordnet. Es sind weitere Verhandlungstage bis Ende Januar geplant.